Hüben und drüben zuhause

Ob sich Bäcker Krause jemals hätte vorstellen können, dass in seiner Bäckerei im Görlitzer Steinweg einmal eine internationale Familie lebt? „Wahrscheinlich nicht“, sagen Agnieszka und Philipp Bormann. Sie haben die ehemalige Bäckerei von Krauses Kindern gekauft und das ehrwürdige Gebäude saniert. Im Dezember 2015 sind Bormanns eingezogen. Das Wohnhaus bietet viel Platz für die fünfköpfige Familie. Neben den Eltern gehören noch drei Jungs dazu, zehn, sieben und drei Jahre alt. „Sie treffen uns in einer sehr glücklichen Phase unseres Lebens“, sagt Agnieszka Bormann im SZ-Gespräch. Die 43-Jährige und ihr gleichaltriger Mann stammen beide nicht aus Görlitz. Er kommt aus Hildesheim, sie aus dem polnischen Kielce nördlich von Krakau. In Görlitz haben sie eine neue, gemeinsame Heimat gefunden, in der sie sich sehr wohlfühlen. „Wir sind überzeugte Europastädter“, sagen beide Bormanns. Sie bewegen sich in Görlitz ebenso sicher wie in Zgorzelec oder der jeweiligen Umgebung. Sie sind beide Grenzgänger und froh, dass es diese Grenze nicht mehr wirklich gibt. „Wir leben auf beiden Seiten“, betonen Agnieszka und Philipp Bormann und sind sicher: Ohne den Mauerfall wäre ihr Leben völlig anders verlaufen. Wären sie sich höchstwahrscheinlich niemals begegnet. So aber konnten sie miterleben, wie Görlitz als Denkmal aufersteht. Wie sich alles verändert, das Meiste davon zum Guten.
 
Was alles möglich geworden ist, macht ihnen Mut und gibt Zuversicht. „Für mich ist es spannend hier. Es ist ein schöner und bequemer Ort für die Erarbeitung einer neuen Heimat“, sagt Agnieszka Bormann. Die kurzen Wege in der Stadt, die gute Infrastruktur, die fußläufig zu erreichen ist, das schätzt die 43-Jährige besonders. Dieses Leben auf beiden Seiten der Neiße habe ihr sehr gefehlt, als sie einige Zeit in Dresden lebte. „Dort war ich zu weit weg von der Atmosphäre, die ich in der Grenzregion kenne und so sehr mag.“ Görlitz eröffnete ihr schließlich eine berufliche Zukunft, nachdem sie zu ihrem Germanistik-Studium in Polen noch ein sehr praxisorientiertes Aufbaustudium absolvierte. Das führte sie an das Internationale Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen, eine Kooperation zwischen Technischer Universität Dresden und Hochschule Zittau-Görlitz. Es hat einen Sitz im Schloss Klingewalde. Dort lernte Agnieszka im Büro von Professor Vogt schließlich Philipp Bormann kennen. Das war 2003. Drei Jahre später waren sie ein Paar, seit 2011 sind sie verheiratet.
 
Philipp Bormann ist seit 1997 in Görlitz. Nach dem Zivildienst studierte er ein Jahr lang an der Humboldt-Universität Berlin. In einer Zeitung las er von einer Studienmöglichkeit in Görlitz und Dresden, die sehr viel Wert auf Wirtschaftswissenschaft legt. Bormann fuhr nach Görlitz. „Lange kam da erst mal nur Wald. In Görlitz angekommen, hat mich die Stadt sofort in Beschlag genommen“, erinnert er sich. Es folgten ein Aufnahmeverfahren und der Umzug nach Görlitz. „Den habe ich noch keine Sekunde bereut“, sagt er. Für Görlitz als Lebensmittelpunkt haben sich Bormanns festgelegt. „Wir wollen hier nicht mehr weg“, sind sie sich einig und schließen dabei nicht gänzlich aus, dass sie sich im Ruhestand doch noch einmal verändern. Das sonnige Italien wäre dafür ihr gemeinsamer Favorit. Bis zum Ruhestand ist es aber noch lange hin. Jetzt sind Bormanns sehr dankbar für ihre Lebensumstände. Sie haben selbst dafür gesorgt, aber es wurde ihnen auch leicht gemacht. Davon sind sie überzeugt. „Wir haben hier ein altes Haus, mit dessen Sanierung wir unser Statement für das Hierbleiben abgegeben haben“, sagen sie.

Voraussetzung ist natürlich ihre Arbeit. Philipp ist Referent für den Generalintendanten des Gerhart-Hauptmann-Theaters, Agnieszka ist die Kulturreferentin für Schlesien am Schlesischen Museum zu Görlitz. Für diese Tätigkeiten kommt es ihnen entgegen, dass beide deutsch und polnisch sprechen. Agnieszka geht mit Freundinnen sowohl ins deutsche als auch ins polnische Kino, Philipp schließt das polnische Kino aus, das ist ihm noch zu anstrengend. „Ich habe mit den Kindern polnisch gelernt, verstehe das Allermeiste“, sagt er. Mit den Schwiegereltern kann er sich gut  verständigen, in Polnisch und Deutsch. Die Jungs wachsen zweisprachig auf. „Für die Kinder ist das selbstverständlich, sie finden nichts Besonderes dabei“, erklärt Philipp Bormann. Seit der große Sohn in der Schule einen bilingualen Weg geht, spricht er seine Mutter öfter auch in Polnisch an. „Vorher hat er ihre Sprache nur gesprochen, wenn er in Zgorzelec die Musikschule besuchte“, erzählt Vater Bormann. Polnisch war für den Jungen bis dahin die „Oma-Sprache“, weil die Großmutter Polin ist und nur wenig deutsch spricht. „Unser Sohn hat jetzt so richtig die Vorteile verstanden, wenn er beide Sprachen beherrscht“, ist Philipp Bormann stolz. Die jüngeren Söhne eifern ihrem Bruder nach. So ist es kein Wunder, wenn es beim Essen am großen Tisch der Familie in der Wohnküche recht lustig zugeht: Deutsch und Polnisch werden gleichzeitig gesprochen. Einer fragt auf Deutsch, der Angesprochene antwortet in Polnisch oder umgekehrt. Und keiner findet das seltsam, weil sie es alle verstehen. Normalerweise wird zu Hause deutsch gesprochen. „Aber sitzt der Opa aus Polen daneben, wechselt zum Beispiel der jüngste Sohn wie selbstverständlich ins Polnische“, erzählt Philipp Bormann und freut sich, dass die Sprösslinge so souverän mit den Sprachen agieren. Manchmal geben sie den Dolmetscher in Kita, Schule oder in der Freizeit, wenn sie anderen Kindern begegnen. 
 
Familie Bormann lebt nicht nur grenzübergreifend, sondern auch konfessionsübergreifend. Agnieszka ist katholisch erzogen worden, Philipp evangelisch. Ihre Kinder haben sie bisher noch nicht taufen lassen. Die drei Jungs sollen, wenn sie älter sind, selbst entscheiden, nach welcher Religion sie leben möchten. In der Schule nehmen die Kinder am evangelischen Religionsunterricht teil. Das wiederum würde Bäcker Krause wahrscheinlich erfreuen. Und wer weiß, vielleicht hätte der Mann seine helle Freude daran, wie gut so eine deutsch-polnische Familie funktioniert – eben Völkerverständigung im Kleinen, jeden Tag aufs Neue und intensiv gelebt.
 


Quelle: Sächsische Zeitung
Text: Gabriele Lachnit
Foto: Nikolai Schmidt 

 

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